„Sei nicht so neugierig!“, tönt es manchmal, wenn eine kindliche
Fragestaffel auf die nächste folgt und das Wissenwollen, warum der Himmel blau ist und der Mond nicht runterfällt, kein Ende nimmt.
Aber oft sind es gerade diese Fragen, die die eigene Wissbegier
von Neuem anstacheln, den Blickwinkel auf die Dinge verändern und neue Perspektiven eröffnen. Annie lässt sich von der kindlichen Neugier ihrer vierjährigen Enkelin Amélie jedenfalls gerne inspirieren. Geduldig, liebevoll und zugewandt erklärt sie ihr mit all ihrer Lebenserfahrung die Welt: mal in französischer, mal in deutscher Sprache.
Ein sonniger Frühlingsnachmittag und die vierjährige Amélie ist voller Vorfreude.
Vergessen sind die Tränen, die vor einer Stunde noch im Kindergarten vergossen wurden: Ein Malheur war passiert und Amélie musste die Strumpfhose wechseln. Das neue Modell passte aber farblich nicht so gut zum Kleid, was wiederum der modebewussten Amélie nicht passte. Eine kleine Kinderwelt drohte zusammenzubrechen – aber jetzt ist alles vergessen. Denn heute ist ein besonderer Tag. Die geliebte Großmutter Annie kommt aus Kroatien zu Besuch und jeden Moment muss es klingeln. Endlich! Die Tür geht auf und kaum dass Annie die Koffer abgestellt hat, liegt ihr das kleine Mädchen auch schon in den Armen. „Bonjour, ma chérie. Ça va?“, fragt Annie. „Merci bien“, erwidert Amélie glücklich und fordert auf Deutsch sogleich: „Gehen wir später nach draußen?“ Annie schmunzelt. Die gebürtige Französin hat eine warmherzige, offene, fürsorgliche Art und ihr Lachen ist ansteckend. 1988 zog sie mit ihrem kroatischen Mann und zwei kleinen Kindern aus Frankreich in die Nähe von Osnabrück und musste sich schnell zurechtfinden. „Das erste Jahr war sehr schwierig. Das hatte ich vorher nicht gedacht. Gerade mit der Sprache! Aber manchmal war es auch komisch. Ich war zum Beispiel einkaufen und traf die Mutter eines Freundes von meinem Sohn. Sie hat mich angesprochen und ich wollte sagen: Ich habe keine Zeit! Stattdessen habe ich gesagt: Ich bin heilig! Sie hat gelacht und gelacht. Aber ich hatte nie Angst zu sprechen. Für mich sind Sprachen sehr wichtig“, erzählt Annie rückblickend. Neben Französisch, Deutsch und Kroatisch spricht sie auch ein bisschen Spanisch. Das hat sie gelernt, weil ihr Vater Spanier war: „Mein Papa ist mit 31 Jahren und nur mit einem kleinen Koffer vor Franco aus Spanien über die Pyrenäen nach Frankreich geflüchtet und hat später dort seine Frau, meine Mama, kennengelernt. Er hatte nie Zeit, mir Spanisch beizubringen, aber ich war sehr neugierig auf die Sprache meines Vaters. Also habe ich sie selbst ein bisschen gelernt und verstehe sie auch ganz gut“, so die 69-Jährige.Neugier motiviert
„Jede neue Sprache ist wie ein offenes Fenster, das einen neuen Ausblick auf die Welt eröffnet und die Lebensauffassung weitet.“ So beschreibt der amerikanische Schriftsteller Frank Harris die Kostbarkeit des Sprachenlernens. Und wie bei Annie ist die Neugier dabei immer eine treibende Kraft, die das Ganze nicht nur erleichtert, sondern auch überhaupt erst ermöglicht: „Die neuropsychologische Forschung sagt uns, dass das Erlernen einer neuen Sprache eng mit Neugier verbunden ist. Sie treibt die Bereitschaft an, mehr über verschiedene Kulturen und Menschen zu erfahren, was die Motivation zum Erlernen einer neuen Sprache steigert, um Verbindungen herzustellen und kommunikative Brücken zu bauen“, erklärt Dr. Kerrie Elston-Güttler, die am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig geforscht und sich auf bilingualen Spracherwerb spezialisiert hat.
Gemeinsam kreativ
Annie hat ihr Sprachinteresse an ihre Kinder weitergegeben. Tochter Virginie spricht Deutsch, Französisch, Spanisch, Englisch und Kroatisch. Und Amélie spricht neben Deutsch ein bisschen Französisch und lernt vom Großvater auch etwas Kroatisch. „Er macht vor allem Spaß mit ihr, spricht aber dabei kroatisch … Und wenn er müde ist und schläft, hält sie ihm die Nase zu und sagt: ,Du brauchst nicht zu schlafen'“, erzählt Annie lachend. Dass der Sprachunterricht vorwiegend in der eigenen Familie stattfindet, vereinfacht merklich das Lernen durch das ständige Sprechen und Hören. Geschieht dies auch noch bei gemeinsamen kreativen Arbeiten, ist für Großeltern und Enkel gleichzeitig noch großer Spaß garantiert. Für Annie gehört es etwa zum festen Ritual ihres Besuchs, dass sie mit Amélie kocht oder backt,
beispielsweise Pfannkuchen. „Seit Amélie zwei Jahre alt ist, machen wir das. Die Grobarbeit erledige ich und bereite auch alles für sie vor. Sie ist sehr engagiert: Das Mehl wird gründlich gewogen, die Eier werden sorgfältig aufgeschlagen und sie will alles wissen und beobachten. Wir sprechen dabei französisch. Ich mache die Sätze einfach und versuche, verständlich zu sprechen. Wenn sie aber etwas nicht versteht, macht sie große Augen!“, erzählt Annie schmunzelnd und ihre Zuneigung zu dem Enkelkind ist spürbar.
Bonjour, liebes Leben!
Seit sie 2015 mit ihrem Mann in dessen kroatische Heimat zog, fährt sie alle sechs Wochen mit dem Bus von Zagreb nach München, um mit Amélie Zeit zu verbringen. „Amélie ist mein Sonnenschein, genau wie ihre Cousine, die neun Monate alte Elisa. Aber Amélie ist mein erstes Enkelkind. Als ich erfahren habe, dass ich Großmutter werde, habe ich geweint wie ein Kind vor Freude“, erinnert sie sich rückblickend. Wie ihre Großmutter ist Amélie sehr offen, hat keine Angst vor Menschen, ist aufmerksam und freundlich. „Bereits mit einem Jahr hat sie höflich mit ,Bonjour‘ gegrüßt. Ob in der Siedlung, im Restaurant oder im Café: Sie hat immer mit ,Bonjour‘ gegrüßt“, erzählt Annie lachend. Wenn sie zu Besuch ist, bringt sie ihre Enkelin zum Kindergarten und holt sie wieder ab. Zusammen malen oder lesen sie. Welches Buch, entscheidet Amélie: Mal ist es auf Französisch, mal auf Deutsch. Gemeinsam gehen sie zum Spielplatz oder eben raus, um die Natur zu erkunden.
Wirkungsvolle Inspiration
Amélie liebt es! Und wie so oft kann sie es auch heute kaum noch erwarten, bis es endlich losgeht. Nachdem Annies Koffer ausgepackt und der Kaffee getrunken ist, geht es endlich raus in die Natur. Amélie ist sehr neugierig, will alles wissen und stellt ihre Großmutter damit vor die eine und andere Herausforderung. „Warum ist das Gras grün, Oma?“ „Warum hat ein Vogel Flügel und ich nicht?“ „Warum geht der Stein in der Pfütze unter?“ Ihre kindliche Neugier ist kaum zu bändigen – ein großes Glück für die Großmutter und die Enkelin.
Denn Neugier ist nicht nur ein treibender Faktor, um Sprachen zu lernen. Sie ist ein wichtiger Kraftstoff für den Kopf und ein Fenster zur Welt: für neue Perspektiven, Impulse und Herausforderungen. Mit zunehmendem Alter aber verlieren viele Menschen ihre Neugier und bringen sich damit um zahlreiche Chancen, nicht zuletzt auch für die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Kinder können hier eine wirkungsvolle Inspiration sein. „Um die Neugier im Erwachsenenalter zu bewahren, ist es wichtig, aktiv zu bleiben, neue Hobbys oder Tätigkeiten zu entdecken und aus seiner Komfortzone herauszutreten. Und welchen besseren Weg gibt es dafür, als seine Zeit mit seinem Enkelkind und voller Überraschungen zu verbringen?“, erklärt Dr. Kerrie Elston-Güttler, die seit 2017 den Jule Verne Campus in München leitet.
Einfache Botschaft
Gut eine halbe Stunde sind Annie und Amélie nun draußen unterwegs und das ausgeprägte Interesse der Vierjährigen an der Natur und deren mannigfaltigen Phänomenen legt eine kleine Pause ein. Die Stille währt nur kurz. Hüpfend, aber fest an der Hand der geliebten Großmutter summt Amélie eine vertraute Melodie und Annie stimmt lächelnd mit ein. Es ist das Lieblingslied der beiden.
„Frère Jacques, frère Jacques. Dormez-vous, dormez-vous? Sonnez les matines, ding ding dong, ding ding dong.“ Das beliebte Kinderlied über „Bruder Jakob“ singen Amélie und Annie auf Französisch und Deutsch. Auf der ganzen Erde singen es Menschen in mehr als 50 Sprachen und es trägt eine ganz einfache Botschaft: Steh auf! Sei neugierig! Geh raus in die Welt und erkunde ihre Schätze.